DIE FRAU MIT DEM LILAFARBENEN BASILIKUM HINTERM OHR

                                                                                     für meine Großmutter
An einem kalten Tag im tiefen Winter, Anfang der 80er Jahre, brachte eine junge Frau mit Hilfe ihrer alten Nachbarin ein gesundes Baby zur Welt. Es war ihr viertes Kind. In den ersten Tagen gab niemand dem Baby einen Namen, weil die junge Frau und ihr Mann der Tradition nach erst mit ihrer Schwiegermutter über den Namen sprechen mussten. Die Schwiegermutter aber war zwei Tage vor der Geburt ins Dorf gegangen, weil sie eine schlechte Nachricht erhalten hatte: Ihr geliebter und gutherziger Onkel war an einem Herzinfarkt gestorben.

Eine Woche nach der Trauerfeier ihres Onkels kehrte die Schwiegermutter nach Hause zurück. Nachdem viele Menschen aus dem Dorf sie besucht hatten, um ihr Mitgefühl auszusprechen, erhielt sie von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter eine erfreuliche Nachricht: Noch ein Enkelkind ohne Namen! Sie gab dem Baby den Namen ihres Onkels: Ömer.

Diese Frau, die jeden Sommer ein Stück selbstgepflanzten lilafarbenen Basilikums hinter ihrem Ohr trug, war meine Großmutter. Sie rief mich niemals bei meinem richtigen Namen. Stattdessen sagte sie zu mir immer „mein Onkel“ oder „mein Onkel Omar“. Aufgrund dieser Geschichte gab es eine besondere Verbindung zwischen uns. Wenn sie zum Beispiel mit dem Auto oder Bus irgendwohin fahren wollte, durfte ich immer neben ihr sitzen. Oder wenn meine Cousine, meine Geschwister und ich etwas angestellt hatte, erlegte sie allen Enkelkindern eine Strafe auf – außer mir. Meine Kindheit verlief deshalb ganz ohne Strafen!.

 Als ich drei Jahre alt war, fand im Dorf eines Tages die Hochzeit eines Nachbarssohns statt. Normalerweise feierten die Menschen und Gäste im Dorf eine Hochzeit drei Tage lang. Dabei halfen alle aus dem Dorf der Familie, die die Hochzeit ausrichtete. Am zweiten Abend der Hochzeit kamen meine Eltern, meine Geschwister und ich früh nach Hause zurück, aber meine Großmutter blieb bei der Hochzeit. Außer mir gingen alle ins Bett und schliefen. Ich war noch wach und wollte auf meine Großmutter warten. Ohne sie wollte ich nicht schlafen. Ich wartete noch ein bisschen, aber sie kam nicht zurück. Schließlich war ich sicher, dass alle im Haus im tiefen Schlaf lagen. Ich ging zur Haustür und öffnete sie. Vor der Tür stand keiner, aber es gab viele Schuhe. Ich zog die Gummistiefel meines Vaters an, da ich in der Dunkelheit meine Schuhe nicht finden konnte. Ich ging die Holztreppen runter. Nachdem ich über hundert Meter zu Fuß gegangen war, kam ich am Hof des Hochzeitshauses an. Da fragte ich die Menschen nach meiner Großmutter. Einer von ihnen brachte mich zu ihr. Natürlich kam sie mit mir nach Hause zurück und weckte meine Eltern mitten in der Nacht, denn sie ärgerte sich mächtig über die Unachtsamkeit meiner Eltern.

Als ich circa acht Jahre alt war, kamen meine Geschwister und ich aus dem Bezirk Göksun, wo ich jetzt mit meiner Familie lebte und die Grundschule besuchte, zum Sommerurlaub ins Dorf. Wenn unsere Eltern nicht mit uns ins Dorf kamen, blieben wir während des Urlaubs immer bei meiner Großmutter. Eines Tages kletterte mein ältester Bruder auf den Maulbeerbaum, der außerhalb des Gartens meiner Großmutter stand und den mein Großvater vor vielen Jahren „Hayır Dutu“[1] nannte. Einige Kinder, meine Cousine und ich standen unter dem Baum. „Kannst du die Maulbeeren für uns runterschütteln?“, fragte ich meinen Bruder mehrere Male. Er wollte es nicht machen. Ich war neidisch auf ihn und ärgerte mich über ihn. Ich nahm einen kleinen Stein und warf damit nach ihm. Leider fing er ihn mit einer Hand auf, und natürlich warf er ihn zurück zu mir. Der Stein traf genau auf meine Augenbraue und das Blut fing an, von meinem Gesicht auf den Boden zu tropfen. Gleichzeitig begann ich zu weinen. Meine Großmutter rannte zu uns, sobald sie mein Weinen hörte und versorgte mich. Später gingen wir alle nach Hause, nur mein ältester Bruder blieb bis zum Abend auf dem Baum. Er musste drei Tage bei meinem älteren Onkel bleiben!

Meine Großmutter hatte 1990 Diabetes bekommen und nach einigen Jahren eine linkseitige Lähmung im Unterkörper. Nach einer einjährigen Behandlung konnte sie wieder mit einem Gehstock aus Holz spazieren gehen. Trotz ihrer Krankheit liebte sie es, Süßigkeiten und süße Früchten zu essen. An einem Freitagnachmittag im September kam ich aus Elbistan, wo ich eine Mittelschule besuchte, ins Dorf, um das Wochenende dort zu verbringen. Bevor ich nicht bei meiner Großmutter war, ging ich nicht zu meiner Familie. Sie saß auf einem Sitzkissen auf dem vorderen Balkon ihres Hauses. Nach der Begrüßung und einer Umarmung gab sie mir auch ein Sitzkissen. Nachdem wir uns etwas unterhalten hatten, sagte sie zu mir: „Mein Onkel, niemand ist zu Hause. Geh in die Küche und bring mir zwei Teller, zwei Gabeln, ein Messer, ein Tablett und eine von den großen Wassermelonen unter der Matratze!“ Ich machte alles, was sie von mir wollte. Wir aßen die süße Wassermelone zusammen, aber mein Vater und meine Onkel mussten sie später ins Krankenhaus bringen. Von dem Ereignis „Wassermelone“ erzählte ich natürlich niemandem.

Im November 2002 fuhr ich mit dem Bus von Istanbul in meine Heimatstadt, um dort das Ramadan-Fest zu feiern. Ich war am ersten Tag des Festes bei meiner Familie. Während des Frühstücks fragte ich meinen Vater: „Fahren wir erst nach Elbistan, um meine Großmutter zu besuchen?“ Sie lebte seit zehn Jahren bei meinem jüngsten Onkel in Elbistan. Er antwortete mir fröhlich: „Ja, wie immer! Die alte Prinzessin mit dem lilafarbenen Basilikum wartet auf uns!“ Nach dem Frühstück erzählte er mir, dass meine Großmutter vor zwei Wochen gestorben war. Ich weinte nicht, aber ihr Verlust tat mir unglaublich weh. Zum Glück hatte meine Großmutter vor ihrem Tod noch die Hochzeit meiner Cousine erlebt. Eine andere alte Dame im Dorf war am zweiten Tag der Hochzeit meines ältesten Bruders im August gestorben.[2] Meine Großmutter sagte über sie: „Sie war schon immer unverschämt. Während der Hochzeit meines Enkelsohns hat sie mit ihrem Tod ihre letzte Frechheit begangen.“

Nach dem Frühstück bin ich zum Friedhof des Dorfes gegangen, um das Grab meiner Großmutter zu besuchen und um für sie zu beten. Dieser Besuch ist wie ein erster Stein, der in den Ozean geworfen worden ist, um dort ein neues, großes Haus für die Freundschaft zwischen meiner Großmutter und mir zu bauen.

„Güle güle, meine Großmutter mit dem lilafarbenen Basilikum!“

Kanat – 13.11.2012


[1] Die Setzlinge für seinen Garten kaufte mein Großvater bei einem Händler, der Ende der 1950er Jahre mit dem Pferdewagen durchs Dorf fuhr. Nach dem Einkauf sagte der Verkäufer zu meinem Großvater: „Ich möchte dir diesen schwachen Maulbeer-Setzling schenken. Nimm ihn und pflanz ihn außerhalb des Gartens! Wenn es ein großer Baum wird, können alle Menschen und Tiere seine Maulbeeren als eine Wohltat essen.“ Deshalb hat mein Großvater diesen Baum „Hayır Dutu“ – der Maulbeerbaum der Wohltat – genannt.
[2] Wenn jemand während einer Hochzeit stirbt, wird die Hochzeit in einer ruhigen Zeremonie ohne Tanz und Musik vollzogen. 

2 Kommentare:

ttheos-community hat gesagt…

Eine wunderschöne Erzällung lieber Ömer. Rührende erinerungen an deiner Oma. Das Maulbeerbaum verbindet uns. An so einem grandiosen Maulbeerbaum habe ich meine Kindheit verbracht. Ich rief damals auch meinem älteren Bruder, "Brato, drm dudova", und hat die gleiche Bedeutung wie bei dir.

ttheo

Ömer Kanat hat gesagt…

:-))) "Brato, drm dudova" Vielleicht hat jedes Kind eigene Maulbeer-Geschichte :-)))