DER ERLEBNISREICHE AUSFLUG VON ZWEI WEISEN NARREN

Vom Urlaub bei meiner Familie kehrte ich Mitte August 2002 nach Istanbul zurück. Ich musste nun zuerst eine Wohnung finden und danach für die theoretische Master-Aufnahmeprüfung, die Ende September stattfinden würde, lernen. Nach einer Woche fand ich eine kleine und günstige Wohnung in Bulgurlu, meinem Lieblingsstadtviertel im anatolischen Teil Istanbuls. Nach dem Umzug fing ich an, sehr intensiv zu lernen, aber bereits nach zwei Wochen zeigten sich die ersten Ermüdungsanzeichen, da ich mich wirklich sehr langweilte. Seit drei Tagen war mein Freund Ali zu Besuch, den ich im ersten Semester an der Universität kennengelernt hatte. Wir grübelten, was wir machen könnten.


Wir trafen schnell eine Entscheidung und beschlossen, am folgenden Tag mit dem letzten Zug nach Edirne zu fahren. Am Morgen war ich am historischen Sirkeci-Bahnhof im europäischen Teil Istanbuls, um mich nach der Abfahrtszeit des letzten Zuges nach Edirne zu erkundigen. Zum Glück wurde den Studenten überall ein günstiges Angebot gemacht. Um Mitternacht fuhren wir mit dem letzten Zug vom Sirkeci-Bahnhof los. Eigentlich sollten wir erst am nächsten Morgen in Edirne ankommen, aber man hatte uns am Sirkeci-Bahnhofs eine falsche Information gegeben: Wir saßen im Expresszug nach Sofia in Bulgarien und mussten nun viel früher als geplant am Bahnhof in Edirne aussteigen. Deshalb schliefen wir nicht im Zug, sondern sangen gemeinsam ein türkisches Lied: 

Gözüm yolda gönlüm darda / Meine Augen sind auf dem Weg, mein Herz ist in Schwierigkeiten.*   
Ya kendin gel ya da haber yolla   / Komm selbst zu mir oder schick mir eine Nachricht!
Duyarım yazmışsın iki satır mektup / Ich hörte, dass du mir einen Zwei-Zeilen-Brief schriebst.
Vermişsin trene halini unutup...“    / Du gabst ihn dem Zug, als du deine eigene Situation vergaßest! 

Unausgeschlafen aber fröhlich kamen wir um drei Uhr nachts am Bahnhof an, der außerhalb der Stadt liegt. Wir brauchten etwa eine halbe Stunde ins Stadtzentrum. Begleitet wurden wir von Hundegebell. Zum Glück war es nicht kalt, sondern bloß kühl. Zuerst waren wir im Hof der Selimiye-Moschee, dem weltweit bekannten Meisterwerk des osmanischen Architekten Mimar Sinan. Jedoch waren wir zu früh: die Selimiye-Moschee war noch geschlossen. Unter freiem Himmel schliefen wir etwa auf dem Platz vor dem Haupteingangstor der Selimiye-Moschee, bis ein Mann uns weckte: „Hey Jungs! Wer seid Ihr?“ Ali, der damals Geschichte an der Universität Marmara studierte, antwortete schlagfertig: „Wir sind Reisende aus Istanbul. Heute sind wir die Gäste der Stadt der osmanischen Prinzen Edirne und des Königs der Architekten Mimar Sinan! Wer sind Sie, Herr?“ Er antwortete: „Ich bin einer der Muezzins der Selimiye-Moschee. Herzlich willkommen in unserer historischen Stadt.“ Danach entfernte er sich lächelnd, um mit dem rituellen Gesang die Menschen zum Gebet zu rufen.

Wer mich kennt, weiß, dass ein Frühstück sehr wichtig für mich ist. Im Stadtzentrum suchten wir deshalb für das Frühstück einen schönen Teegarten aus, in dem sehr schöne Blumen, Bäume und Weinreben wuchsen. An einem Tisch unter einer Weinlaube aßen wir frische Pasteten und tranken heißen Tee. Dann gingen wir bis in den Nachmittag hinein in ganz Edirne spazieren, auch wenn es manchmal regnete. Edirne, das im bulgarisch-griechisch-türkischen Dreiländereck liegt, war zwischen 1368-1453 die Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Es gibt dort zahlreiche historische Sehenswürdigkeiten, die von den Römern,  Byzantinern und Osmanen erbaut wurden.

Während des Besuchs einer historischen Moschee lernten wir einen Lehrer kennen, der an einer Berufsschule arbeitete. Mit ihm sprachen wir über unsere spontane Reise nach Edirne. Er war zweifellos sehr erstaunt über uns. Nachdem er mit seiner Frau gesprochen hatte, lud er uns zum Abendessen und zu einer Übernachtung zu sich nach Hause ein. Nach dem Essen gingen Ali und ich nach draußen, natürlich nicht um in ein Restaurant zu gehen, sondern, um in der Dunkelheit  noch einmal die Stadt zu sehen. Gegen 22 Uhr kehrten wir zu der gastfreundlichen Familie zurück. Nach einem Nachtisch mit Tee gingen Ali und ich in das Gästezimmer, um zu schlafen – in jedem traditionellen türkischen Haus gibt es für Gäste ein Zimmer. 

Nachdem wir von der netten Familie Abschied genommen hatten, fuhren wir am nächsten Tag  früh mit dem Zug nach Istanbul zurück. Während der Fahrt sangen die zwei weisen Narren natürlich noch mal gemeinsam ein türkisches Lied: 
 
Boşuna çekilmedi bunca acılar               / Nicht umsonst hatten wir so viele Schmerzen.
Büyük ve sakin Süleymaniye’nle bekle / Warte mit deiner großen und ruhigen Süleymaniye auf uns!
Parklarınla, köprülerinle, meydanlarınla / Mit deinen Parks, Brücken und Plätzen...
Bekle bizi İstanbul!                               / Warte auf uns, Istanbul!

Kanat – 26.02.2013


* Die Liedertextabschnitte sind wörtlich übersetzt.

Keine Kommentare: